Kölner-Stadt-Anzeiger (2004)

August 26th, 2004

DER KOPF IST FREI

Begegnungen mit Anama Kristin Fronhoff, die im Alter von 33 Jahren die Herrschaft über ihren Körper verlor

Von Petra Pluwatsch

Am meisten, sagt Anama Kristin Fronhoff, vermisse sie das Motorradfahren. „ Die Freiheit, den Wind, das Alleinesein.“ Früher ist sie manchmal für einen Kaffee nach Holland gefahren. Dann die Fahrten in die Türkei, nach Israel. Wir sitzen auf ihrer Veranda in Köln Ossendorf, die Luft ist sanft und lau, ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. Marc, 27, der Dienstags- Assistent, hat frischen Kaffee gekocht und ihr einen Becher auf die Ablage des Rollstuhls gestellt. Bedächtig neigt sie den Kopf und saugt an einem extra langen Strohhalm. „ Willst du rauchen?“ fragt Marc. Sie nickt. Der junge Mann zündet eine Zigarette an und schiebt sie ihr für einen langen Atemzug zwischen die Lippen. Marc gehört zu dem 15-köpfigen Team des Kölner DRK, das die junge Frau betreut – rund um die Uhr und Tag für Tag. Marcs Tag ist der Dienstag.

Mit einem gewaltigen Satz springt Jonathan, ein großer, goldfarbener Kater, auf die Ablage des Rollstuhls und lässt sich vorsichtig neben der halbvollen Kaffeetasse nieder. Anama prustet los. Laut und fröhlich bricht das Lachen aus ihr hervor, es gurrt und gluckst und gackst in der Kehle, als wolle es nie mehr aufhören. Man muss sich gewöhnen an dieses Lachen. Und, so merkwürdig es auch klingen mag- man muss sich gewöhnen an Anama Kristin Fronhoff, 37 Jahre alt, die vor dreieinhalb Jahren von einem Hirnstamminfarkt aus ihrem gewohnten Leben gerissen wurde, und dennoch nicht verzweifelte.
„Ich lebe gern“, hatte sie kurz vor Weihnachten in einer E- Mail an die Redaktion des Kölner Stadtanzeiger geschrieben und angefragt: „ Haben Sie Interesse, den angefügten Artikel zu veröffentlichen? Über eine positive Antwort würde ich mich freuen.“ Natürlich hatten wir Interesse (siehe nebenstehender Artikel). Es kamen weitere Mails, fröhliche und nachdenkliche. Daran gehängt Fotos, die eine lachende junge Frau im Rollstuhl, bei der Ergotherapie und am Stehpult zeigten. Auf einem – Anama schickte es kurz nach Karneval, wir kannten uns längst persönlich – sitzt sie als Schaf verkleidet im Rollstuhl und hält ein Schild mit der Aufschrift „ Mäh“ im Schoß. „War irgendwie echt der Renner!“ stand dabei.

An einem Freitag Nachmittag im Winter treffen wir uns zum ersten Mal. Seit zweieinhalb Jahren wohnt Anama in einer behindertengerechten Dreizimmerwohnung in Köln-Ossendorf: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad, Veranda mit kleinem Garten. Das dritte Zimmer ist reserviert für die Assistenten, die auch in der Wohnung übernachten.

Eingemummelt in einen dicken Pullover sitzt Anama in ihrem Rollstuhl, eine Blondine mit rundlichem Gesicht und großen blauen Augen. Die Arme ruhen angewinkelt auf der Ablage des Rollstuhls, die Finger sind wie zu einer Faust geballt, weil sich die Sehnen verkürzt haben. Ihre Füße, ein wenig einwärts gedreht, stecken in bequemen roten Sportschuhen.
Seit etwa eineinhalb Jahren kann sie ihren Kopf aus eigener Kraft bewegen. Dort ist ihre Bewegungsmöglichkeit uneingeschränkt. Sie kann wieder selbstständig atmen, sie kann schlucken, sprechen und, gestützt auf zwei Krankengymnastinnen, einige Minuten lang ohne Stehpult aufrecht stehen. Sie kann ihre beiden Unterarme ein paar Zentimeter vor- und zurückbewegen. All das ist mehr, als die Ärzte jemals für möglich hielten.
„Hallo“ sagt sie, und ihre Stimme klingt so hauchzart und leise, als habe sie sie seit Monaten nicht mehr benutzt. Sorgfältig formen die Lippen jeden einzelnen Buchstaben. Das A, das O, langsam biegt sich die Zunge zum L. Wie begrüßt man jemanden, der seine Hände nicht bewegen kann? Wie nahe darf man ihm kommen, ohne ihn zu bedrängen? „Man kann mir doch genauso nahe kommen, wie vor meinem Unfall – ich bin kein anderer Mensch, nur weil ich gelähmt bin.“
Anama schiebt ihren rechten Unterarm ein wenig vor und wendet den Kopf zur Seite, dahin, wo Ina, die Freitags-Assistentin, sitzt. „Schön, Sie zu sehen“, sagt Ina zu mir. Es dauert lange, ehe Anama ihr Gegenüber erstmals direkt anspricht. „Ich bin es nicht gewohnt, dass Fremde mich verstehen“, erklärt sie in einem späteren Gespräch ihre anfängliche Zurückhaltung.

Mehr als eine Stunde reden wir bei diesem ersten Treffen miteinander- über das Leben und den Tod und wie es ist, nach einigen Monaten aus dem Koma zu erwachen und nur noch die Augenlieder bewegen zu können. Es ist eng in dem Wohnzimmer, das gleichzeitig als Diele dient. Das Stehpult, ein kompaktes Eisengerüst mit Fußschlaufen und einem ledernen Haltegurt für den Körper, nimmt einen Teil der Wand ein. Daneben steht ein Lesepult mit einer Vorrichtung zum mechanischen Umblättern von Buchseiten, mit deren Hilfe Anama ohne menschliche Assistenz lesen kann. Dennoch wirkt der Raum hell und gemütlich. Bücher stapeln sich in einem Regal über dem Tisch: Reiseführer von Israel, Deutschland und Mallorca, Krimis von Rita Mae Brown, eine alte, abgegriffene Ausgabe von „Kristin Lavrans Tochter“. Zwei Plüschteddys hocken auf einer Holztruhe, auf dem Tisch, zwischen getrockneten Blütenblättern, brennt eine Kerze. In hohen Bechern wird nachtschwarzer Kaffee serviert, und um die Räder des Rollstuhls streicht maunzend Jonathan, „ Der König von Ossendorf“. Ein Jahr habe er gebraucht, bis er die Angst vor dem Rolli verloren habe, erzählt Anama und lacht ihr ansteckendes, kehliges Lachen. Und, dass Jonathan ihr das Leben gerettet habe. Ohne ihn, da ist sie sich sicher, hätte sie längst aufgegeben.
„Hirnstamm- Infarkt“, diagnostizierten die Ärzte, nachdem die Intensiv- Krankenschwester im August 2000 während einer Meditationsstunde im Kölner Osho-Zentrum zusammengebrochen war. Wie konnte das geschehen? „ Keine Ahnung. Ich war nie vorher krank“, sagt Anama, und wenn sie könnte, würde sie jetzt vermutlich ungeduldig mit den Schultern zucken. Was tut das heute noch zur Sache? Schlimme Kopfschmerzen habe sie gehabt am Nachmittag jenes 11. August 2000. Sie waren die einzigen Vorboten der kommenden Katastrophe. „ Nicht intubieren“, habe sie den Notarzt noch mit letzter Kraft gebeten und die Telefonnummern von zwei Freunden genannt, die benachrichtigt werden sollten.

Die nächsten Monate sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Lediglich an einige häufig wiederkehrende Albträume aus jener Zeit erinnert sie sich. In ihnen erstach sie immer wieder dieselbe afrikanische Familie, zerlegte sie in Einzelteile und entsorgte sie im Müllwagen der Intensivstation. In anderen Träumen lebte sie in einem Sanatorium und schlüpfte jeweils in eine andere Identität. „Beinahe jeden Tag war ich der Herr in einem anderen Körper, bis er verstorben ist. Manchmal war ich eine Frau, manchmal ein Mann. Das Alter war unterschiedlich, genauso wie die Erkrankung.“ Geblieben von dieser Zeit ist die Überzeugung, „dass nach dem körperlichen Tod das Leben weitergeht“.
Erst einige Monate später, an ihrem 34. Geburtstag, tastete sich Anamas Bewusstsein erstmals für ein paar Minuten zurück in die Realität. Ein Sauerstoffgerät unterstützte sie beim Atmen, über eine Magensonde floss flüssige Nahrung durch die Bauchdecke in den Körper. Rund um das Bett standen Therapeuten in blau-weißer Kleidung. Sie hielten bunte Luftballons in den Händen und sangen: „Happy Birthday to you.“ Sie lebte. Aber es war wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.
Ein Hirnstamminfarkt ist vergleichbar mit dem Einsturz einer Brücke: Sämtliche bekannten Verbindungswege von der Schaltzentrale Gehirn zu den Außenstellen (Körper) sind unterbrochen. Das Gehirn sendet zwar weiterhin Signale aus, doch der Körper kann sie nicht mehr empfangen, der Patient ist „locked-in“, eingeschlossen in seinen eigenen Körper. „Ich konnte nichts mehr“, sagt Anama, „weder atmen, noch schlucken, noch sprechen.“ Nur Wolfgang, ihr bester Freund und früherer Lebensgefährte, bemerkte, dass in dem bewegungslosen Körper ein verzweifelt wacher Verstand steckte. Seitdem ist jeder Tag eine Herausforderung, um wenigstens einen winzigen Teil des Verlorenen wieder zu erobern. Ihr größter Erfolg? Sie lacht. „Jonathan zu streicheln. Einen Apfel zu essen. Dass es überhaupt wieder Spaß macht zu essen.“

Zwei Wochen nach unserer ersten Begegnung begleitete ich Anama zur Ergotherapie ins „Zentrum für Ergotherapie“ in der Kölner Südstadt. Zweimal in der Woche, jeweils 90 Minuten, trainiert sie bei „Ergotop“ zusammen mit einer Therapeutin, Kopf und Körper wieder zum Zusammenspiel zu bewegen. „Das Gehirn“, sagt sie, „muss sich neue Wege suchen, weil die alten abgestorben sind.“
Gehalten durch dicke Stützkissen, auf denen kleine bunte Fische schwimmen, sitzt sie aufrecht am Tisch des Therapiezentrums. Das Gesicht ist starr vor Anspannung. In ihrer rechten Hand steckt, gehalten durch einen dicken roten Griffverstärker, ein Pinsel, auf dem Tisch liegt ein Holzrahmen, in den eine Leinwand aus Seide eingespannt ist. Anamas rechter Unterarm liegt schwer in der Hand der Therapeutin. Gemeinsam führen sie den Pinsel nach oben. Selbständig gleitet Anamas Hand wieder nach unten. Auf und ab. Auf diese Weise soll der Streck- und Beugemechanismus der Arme aktiviert werden.
„Wollen Sie auch mal?“ fragt die Therapeutin und rutscht zur Seite. Ich setze mich neben Anama, schlinge mein linkes Bein um ihren Körper, um selber Halt zu finden, und geleite mit der Rechten ihren Arm nach oben. Ihre Muskeln leisten Widerstand, ich spüre die Spannung unter der warmen Haut. Auf und ab – Schwerstarbeit für uns beide. Langsam füllt sich die Leinwand mit roten und blauen Strichen. „Kann nicht mehr. Ich bin platt.“ Anamas Finger umklammern weiter den Griffverstärker, bis die Therapeutin behutsam ihre Hand öffnet und das Gerät entfernt.
Zwei Tage später, ein Donnerstag. Gehalten durch einen breiten Ledergurt, der ihre Hüften umspannt, steht Anama am Stehpult und übt Sprechen. Die Füße sind durch Schlaufen am Boden fixiert. Zwei Mal in der Woche kommt Michael, ein junger Logopäde, zu ihr nach Hause. „Pata – pataka – patakala“, spricht er vor. Mit einem eisgekühlten Wattestäbchen reizt er vorher Anamas Gaumensegel, damit der sich besser schließt und sie die K-Laute besser aussprechen kann. „Ka – ko – ki – kata – kiki – pataka.“ Auch heute Abend wird sie platt sein.
Warum hat es gerade sie getroffen? Eine unter Millionen? Komisch. Diese Frage habe sie sich nie gestellt, sagt Anama mit ihrer leisen, etwas heiser klingenden Stimme, der zu folgen ich in den vergangenen Wochen gelernt habe. Wir sitzen im Garten. Längst ist das distanzierte „Sie“ einem „Du“ gewichen. Es scheine um das Annehmen zu gehen, fährt sie fort. „Darum, zu lernen, das Schicksal so anzunehmen, wie es ist. Je weniger du fähig bist, außen zu agieren, umso mehr lebst du quasi in deinem Inneren. Meine Grenzen haben sich verschoben und ich kann viel mehr akzeptieren als früher. Auch mich selber. Das heißt allerdings nicht“, sagt sie, „dass alles immer so toll ist.“

Die Angst, aus Kostengründen irgendwann in einem Pflegeheim zu landen, ist nach wie vor groß. „Aber ich habe keinen Bock auf eine Satt- und Sauberpflege“, sagt sie. „Ich habe nicht darum gebeten, reanimiert zu werden und will mir nicht vorrechnen lassen, wie teuer ich jetzt bin! Entweder, man rettet das Leben und bezahlt anstandslos die Reha-Kosten oder man reanimiert gar nicht erst. Das ist meine Meinung.“Ein Hundeverein in Gummersbach will einen Behinderten-Begleithund für sie ausbilden. Er könnte langfristig die Assistenten ersetzen. 7000 bis 8000 Euro wird die Ausbildung des Tieres kosten. „Wie soll ich das bezahlen?“
Bei einem weiteren Besuch, Wochen später, zeigt sie Fotos von sich. Ein Freund hat sie zufällig am Morgen jenes verhängnisvollen Augusttages vor vier Jahren in Anamas ehemaliger Wohnung aufgenommen. Fröhlich strahlt die 33-jährige in die Kamera, ein Bein ist kokett angewinkelt, der Kopf mit blonden Locken leicht zur Seite geneigt, das schwarze Sommerkleid sitzt knapp.
Tut es weh, diese Fotos zu sehen? Anama schweigt ein paar Sekunden. Früher sei sie „eine Getriebene“ gewesen, sagt sie dann. Immer auf der Suche nach etwas Besserem. „Irgendwie wollte ich immer glücklicher sein als ich war und dachte, das fände ich im Außen. Aber ich bin nirgendwo richtig angekommen, am wenigsten in mir selber. Heute bin ich nicht nur im Äußeren zur Ruhe gekommen, sondern auch im Innern.“

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