Osho Times 3/2004

März 26th, 2004

Ja zum Leben

Anama, die seit vier Jahren infolge eines Hirnstamminfarkts gelähmt ist, schreibt über ihr Leben mit der Krankheit

ICH LEBE GERNE! Auch wenn ich nicht verschweigen möchte, dass ich mir immer wieder die Frage stelle, ob so ein Leben lebenswert ist.

Kurz zu meiner Vorgeschichte:

Ich wurde 1967 als zweites Kind von zwei Gastronomen in Höxter an der Weser geboren. Nach dem Abitur begann ich 1986 in der Pflege und machte im Anschluss eine Krankenpflegeausbildung in Köln. Ich arbeitete dann u.a. in der Schwerstverbranntenintensivstation, wo ich immer wieder mit der Thematik des Sterbens konfrontiert war. Es war eine Auseinandersetzung, die mich nicht nur in meinem Beruf als Krankenschwester, sondern auch in meinem Inneren sehr bewegt hat. Bei meiner Arbeit damals ging es immer wieder darum, ob man bei einem schwerst verletzten Patienten die Intensivmedizin einsetzen oder ihn sterben lassen sollte. Immer wieder kam die Frage auf, ob so ein Leben noch lebenswert sei. Und dann stellte sich mir diese Frage auf einmal auf ganz persönliche Weise: am 11.August erlitt ich einen massiven Hirnstamm-Infarkt und lebe seither mit dem sogenannten Locked-In-Syndrom. Nach meinem Hirnstamminfarkt teilten die Ärzte meinen Angehörigen mit, dass ich diesen Infarkt wohl nicht überlegen werde. Daraufhin baten meine Angehörigen, mein Leben weitere drei Tage aufrecht zu erhalten, damit sich alle Freunde von mir verabschieden könnten. Es kam aber anders: ich habe überlebt, wenn auch mit einem Locked-In-Syndrom. Damit hatte niemand gerechnet, – ich bin eben ein ziemlich zäher Knochen.

An das darauffolgende Jahr kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Ich wurde lange Zeit künstlich beatmet und ruhig gestellt. Während der Zeit auf der Intensivstation gab es Momente, wo es mir sehr schlecht ging. Ich war schon in einer anderen Welt. Dieses Erlebnis hat mich sehr geprägt. Auf einmal war alles körperlos. In völliger Harmonie traf ich Verstorbene wieder. Der Körper spielte keine Rolle mehr, es war das pure Bewusstsein. Diesen Zustand kann ich nicht belegen oder beweisen, aber er ist unendlich wertvoll für mich.
Und dann wachte ich wieder auf und hatte die Bescherung: Locked-In-Syndrom! Das heißt: ich konnte mich nicht mehr bewegen und auch meine Stimmbänder waren vollständig gelähmt. Ein ganzes Jahr verbrachte ich dann in einer Rehaklinik. Seit zwei Jahren wohne ich jetzt in meiner eigenen Wohnung. Dort werde ich von Assistenten des Deutschen Roten Kreuzes (DRK ) rundum versorgt. Ich bin auf den Rollstuhl angewiesen, meine Armbeweglichkeit ist unwillkürlich. Seit Oktober 2002 kann ich den Kopf wieder alleine halten, brauche keine Kopfstütze mehr. Heute kann ich auch wieder leise sprechen.
So viel zu meiner Vorgeschichte.

Ist dieses Leben nun lebenswert oder nicht? Diese Frage stelle ich mir öfters, zumal sie dauernd von der Außenwelt auf mich zukommt. Ein sehr entscheidender Punkt ist dabei für mich die Bewertung meines Körpers. Viele Menschen werden vielleicht überrascht sein, aber mein Körper ist sehr zentral in meinem Leben.
Durch den Infarkt hat sich mein Leben von Grund auf geändert, es sind quasi zwei Leben in einem. Meine äußere Erscheinung hat sich vollkommen verändert, und das ist ja sehr auf den Körper bezogen. Den Kern in mir erlebe ich dagegen sehr ähnlich wie früher , also kann ich nicht nur der Körper sein. Wäre das anders, würde ich ja bei meinem körperlichen Tod sterben. Dann wäre mir der körperliche Zustand extrem wichtig, die höchste Maxime sozusagen. Mit meinem Glauben, dass ich mehr bin als der Körper, kann ich ziemlich gelassen leben und abwarten, was das Leben mich alles noch erleben lässt. Mir ist das eine wahnsinnige Hilfe, eigentlich die Gewährleistung, dass ich bisher überhaupt überleben konnte und nicht vollkommen resigniert habe.
Ich habe deutlich am eigenen Leib erfahren, wie sich das Leben von einem Moment auf den anderen total verändern kann. Mir erscheint es so, dass nichts im Leben sicher ist. Ich kann nur in diesem Augenblick leben, – im nächsten Moment kann schon eine völlig andere Lebenssituation eintreten.

Immer wieder spüre ich den Schmerz um das Vergangene. Aber durch diesen Schmerz bin ich auch gewachsen. Ich habe erfahren, dass mir nur die Akzeptanz meines Zustandes helfen kann.
Dabei wären wir bei der Frage `Was ist normal?’. Es wird immer wieder darüber geurteilt, was normal ist und was nicht. Ich kann z.B. nicht beurteilen, wie ein Mensch mit geistiger Behinderung sein Leben bewertet. Das zu tun, erschiene mir recht vermessen.
Natürlich nervt es mich, dass ich nicht erwerbsfähig bin. Ich würde gerne arbeiten, denn beinahe täglich komme ich in das Gefühl, ich sei nichts wert. Maßgeblich hervorgerufen durch Menschen von außen, die mir dies vermitteln. Natürlich hat es bisher noch niemand gewagt, mir offen ins Gesicht zu sagen, dass er mein Leben nicht lebenswert findet. Die subtilen Blicke sagen es aber deutlich – für viele Menschen ist so eine Lähmung der totale Albtraum. Oft sehe ich jede Menge Mitleid in den Augen anderer und ich hasse diese mitleidigen Blicke.
Ich möchte aber nicht vergessen zu erwähnen, dass viele Menschen sehr liebenswert zu mir sind. Ich bekomme jede Menge Zuneigung. Worauf das beruht, weiß ich nicht. Aber mir tut es gut.

Körperlich bin ich mit meinem Zustand nicht zufrieden. Es finden nur langsam Fortschritte statt und das unter ständigen Therapien. Es ist wie ein Wettlauf gegen die Zeit. Ich werde auch immer älter und muss mich darauf einstellen, dass mit wachsendem Alter die ersten Altersbeschwerden kommen werden. So eine Erkrankung erfordert langjährige Disziplin für die verschiedenen Therapieformen. Es bedarf einer Menge Energie und schon eine Lungenentzündung könnte mich um Monate zurückwerfen. Von daher schaue ich genau auf meinen Körper, wie es ihm geht. Man braucht ein starkes inneres Rückgrat, um nicht an der Situation zu verzweifeln. Zum Glück habe ich einige sehr gute Freunde, Freundschaften sind mir sowieso wichtig geworden. Neben den Freundschaften gibt mir mein Glaube Kraft. Das äußere Erscheinungsbild bei einem Locked-In-Syndrom zeigt durch das Abgeschlossensein, dass letztendlich jeder Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen allein ist, auch wenn er vieles mit anderen teilen kann.
Infolge meiner Krankheit benötige ich viele Hilfsmittel. Dadurch ist mir Technik kein Fremdwort geblieben. So liebe ich zum Beispiel den Computer, durch den ich viele Kontakte nach Außen per e-mail habe. Er ist für mich wie ein Fenster zur Welt geworden. Dort spielen äußere Aspekte keinerlei Rolle. Und so vermeide ich die unterschiedlichsten Formen von Reaktionen meiner Umwelt. Ich bin sehr gerne zuhause. Und entscheide in jedem Augenblick wie viel Kontakt ich nach außen haben möchte. Auch haben sich die Formen meiner Kontakte dahingehend verändert, dass es mir egal ist, ob ich gerade einem Mann oder einer Frau schreibe, vom Alter gar nicht zu sprechen. Ein Geschlechtsleben findet bei mir nicht mehr statt. Das mag vielen komisch vorkommen, mir aber nicht. Natürlich wünsche ich mir manchmal einen Partner, aber das ist zumindest augenblicklich nicht möglich. Und auch nicht das erstrebenswerte Ziel meiner Träume.

Sehr ärgerlich ist die ständige Auseinandersetzung um die Bewilligung von Hilfsmitteln und Therapien mit meiner Krankenkasse. Ich persönlich kann nur von Glück sagen, dass meine Mutter meine ambulante Therapie im NTC ( ambulante Rehaklinik) mit über 60.000 Euro privat finanziert hat. Ohne die Verbindung der verschiedenen Therapieformen und dem Austausch der Therapeuten untereinander, der nur in so einer Einrichtung möglich ist, wären die Fortschritte höchstwahrscheinlich nicht möglich gewesen. Seit einem Jahr ist ein Verfahren wegen der Finanzierung dieser Rehakosten beim Sozialgericht anhängig. Womit wir bei der Wirtschaftlichkeit eines Lebens wären. Es sind eine Menge Kosten entstanden. Aber so eine Erkrankung kann jedem jeder Zeit passieren – niemand sollte sich da so sicher sein -, und dann möchte Mensch sicher nicht gesagt bekommen, dass er zu teuer sei, unwirtschaftlich wäre. In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass mir durch die fehlende Erwerbstätigkeit nur eine kleine Rente zur Verfügung steht, mit der ich mir wahrlich keine große Sprünge erlauben kann.
Viele Menschen meinen, sie wüssten besser, was für einen gut ist und was nicht. Es passiert mir zum Beispiel dauernd, dass man mir sagen will, was ich wann und wo essen oder trinken soll. Ich habe mir angewöhnt, das in einem Ohr reingehen zu lassen und im anderen Ohr wieder raus. Anscheinend wirke ich für viele wie das kleine Kind , das selber nicht entscheiden kann, was es gerade braucht. Solche Leute nerven mich. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch nur für sich schauen soll, was ihm gut tut. Niemand ist in meiner Situation, und jeder sollte sich an die eigene Nase fassen. Vom Typ her bin ich ja eher frech. So mancher ist verwundert, dass eine Person mit körperlicher Behinderung so ist, erwartet er doch meist eine total liebe Person. Andere Menschen denken wieder, eine körperliche Behinderung sei mit einer geistigen Behinderung verkoppelt. Auch das ist falsch. Vielfach kennen sich die Menschen nicht aus mit Behinderungen. Von daher entsteht häufig eine Unsicherheit mir gegenüber. Meine Kontakte haben sich insofern geändert, dass ich mit Menschen zu tun habe, die kein Problem damit haben, dass ich jetzt auch zu den Menschen mit Behinderung zähle.

Durch den Infarkt und die damit verbundene Lähmung habe ich einen anderen Blickwinkel auf die Welt bekommen. Damit meine ich zum Beispiel meine Freude über eine in der Sonne strahlende Blume. Ich lerne immer mehr, die Natur zu schätzen und nicht wie getrieben durch die Welt zu rasen, um die Bestätigung von meiner Umwelt zu bekommen. Ich lebe viel mehr im Hier-und-Jetzt.

Bei allen Fragen, die ich mir manchmal stelle, habe ich doch ein klares `Ja` zum Leben. Mit Sorge betrachte ich die aufkeimende Diskussion, in der es um pränatale Euthanasie und überhaupt um Euthanasie geht. Meiner Meinung nach ist es vermessen, wenn ein Mensch über das Leben eines anderen urteilt und diese sogar vielleicht verurteilt. Ich persönlich kann nicht ermessen, unter welchen Umständen jemand auf dieser Welt sein Leben führen möchte. Schlimm finde ich, dass ein Menschenleben wirtschaftlichen Aspekten untergeordnet wird. Das Leben ist immer noch das größte Gut, wie immer es auch aussehen mag.

Heute frage ich mich immer weniger, ob mein Leben lebenswert ist. Die Frage erscheint mir immer absurder. Es ist einfach nicht meine Entscheidung, über Leben und Tod zu urteilen. Und schon gar nicht über den Zeitpunkt. Ich lebe im Moment, und das ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach so. Ich habe mein Leben einer größeren Macht überlassen, wie immer sie auch aussehen mag. Man könnte auch sagen, ich habe Gott an die Nr. 1 gestellt. Er oder sie wird entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt für die Geburt oder den Tod gekommen ist. Das liegt nun wirklich nicht in meiner Hand. Und beides sind nun einmal Teile meines Lebens.
Ich kann nur darüber entscheiden, wie ich den Augenblick wahrnehmen möchte, bewerten möchte. Und eigentlich möchte ich ein angenehmes Leben haben, mit viel Liebe und Lachen, also bewerte ich das Leben einfach einmal positiv. Das mag sich ziemlich naiv anhören, vielleicht ist es das auch, aber es tut mir nun einmal gut, und das erscheint mir das Wichtigste.

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